Schlagt ihn tot, den Rezensent!
Da hatt' ich einen Kerl zu Gast, er war mir eben nicht zur Last;
ich hatt' just mein gewöhnlich Essen, hat sich der Kerl pumpsatt gefressen,
zum Nachtisch, was ich gespeichert hatt'.
Und kaum ist mir der Kerl so satt,
tut ihn der Teufel zum Nachbar führen, über mein Essen zu räsonieren:
"Die Supp hätt können gewürzter sein, der Braten brauner, firner der Wein."
Der Tausendsakerment!
Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent!
Johann Wolfgang von Goethe
"Ihr Kritiker könnt ja noch nicht mal ein Ei kochen!"
"Wer essen will, ohne sich auf die Kochkunst zu verstehen, wird über die dargereichten Speisen kein sicheres Urteil fällen können."
PLATON
Restaurant-Kritiken
Wenn Anton Ego im Film "Ratatouille" das Restaurant betritt, bebt der Boden, zittert der Koch. Wenn wir von kochtext kommen, zittert keiner. Denn wir testen anonym, zahlen selbst und geben uns auch danach nicht zu erkennen. Einige Beispiele aus unserer Rezensionsarbeit (siehe auch Referenzen):
Restaurantkritiken
Millionärswildwechsel ohne Aufpreis
Auch nach ihrem Umzug in den (nur architektonisch) dörflichen Kern Pöseldorfs umweht die sizilianische Koch-Autodidaktin Anna Sgroi der Ruf, bei ihr könne man richtig einfache Küche für richtig viel Geld serviert bekommen. Dem wird sie im neuen Ambiente mit größtbürgerlichem „Hauptsaal“ drinnen und einer schönen Außenterrasse mit Blick auf den Milchstraßen-Millionärswildwechsel nach wie vor gerecht – abends geht für drei Gänge nichts unter 80 Euro, und trotz der im Sternenrestaurant-Vergleich eher gemäßigten Weinpreise wird auch der mittägliche Zweigang-„Business Lunch“ für 32 Euro Otto Normalesser als Zielgruppe ausschließen. Schade, schade, denn wir haben schon lange nicht mehr so authentisch und gleichzeitig auf höchstem kulinarischen Niveau italienisch geluncht wie an diesem sonnenbeschienenen, feinstleinengedeckten Außentisch: Das krosse Weißbrot zum fruchtbombigem Öl der Olivensorte Tonda Iblea, der Highend-Küchengruß (rauchige Garnelen), die Vorspeisen Jakaobsmuschel mit Spitzmorcheln von der auch mittags gültigen Hauptkarte sowie der Menü-Salat von Spargel und gebratenen Pilzen bis hin zum mehr verliebt denn beherzt gesalzenen kleinen Teller toskanischem Bauerneintopf mit Pasta-Resten, Bohnen und krosser Pancetta. Angesichts des eher faden Lunch-Heilbutts meiner Begleitung treibe ich die Zeche mit Sgrois Flagschiff um weitere 39 Euro hoch: Ihr legendäres „Zicklein aus dem Ofen“ schmilzt als Mini-Carrée, Leber und Bauch-Rollbraten vom Ziegenbaby am Gaumen langsamer als der Scheinvorrat in unserem Geldbeutel. Mehr braucht es nicht, zum Seligsein in Schnöseldorf. (aus: Szene Hamburg Essen & Trinken)
Essen und gesehen werden
Gerhard Schwaiger, Mallorcas dienstältester und zugleich frisch gebackener Ex-Sternekoch, kommt nicht zur Ruhe. Für Stammgäste-Gruppen, das steckte er neulich dem Ex-RTL-Chef Hans Mahr, kocht Schwaiger diskret und verschwiegen noch immer auf Bestellung seine alten Sternemenüs in einem verschwiegenen Séparée im ersten Stock über dem Bistro. Die Neustrukturierung seines Gastgewerbes – ehemals getrennt in das Feinschmeckerlokal drinnen und das gläserne Bistro an Puerto Portals feiner Yachtenpromenade samt Terrassen – scheint nach über einem Jahr Testphase noch längst nicht abgeschlossen. Wir gehen mit einer Extraportion Wohlwollen in unseren Besuch, der terminlich leider auf den Erstöffnungstag nach der Winterpause fallen musste. Die Arbeiter sind mit der Neu-Plattierung des öffentlichen Platzes vor dem Lokal noch nicht fertig, ein provisorisches Zelt mit „Tristan Mar“-Aufschrift wird gerade wieder abgebaut, deshalb dürfen wir von der noch stark verkleinerten „Mar“-Karte vorne an der Terrassenspitze des Bistros bestellen. Schön, hier wird man am besten gesehen beim Essen, und sieht selbst auch am Meisten.
Das „Mar“, erklärt uns der Restaurantchef, soll nach dem Umbau nicht mehr im ehemaligen Sternelokal beheimatet sein, sondern in einem noch zu bauenden, abgeschlossenen Glas-Anbau im Stile des alten Bistros mit Terrasse zum kleinen Platz auf der rechten Seite. Bis das fertig ist, vermischt sich „Mar“ und „Bistro“, doch überall gilt die klare Absage an Michelin-Sterne-Insignien, einzig Schwaigers Original-Küchenmeisterbrief der „Industrie- und Handelskammer Rhein-Neckar“ vom 4. Juli 1986, eingerahmt im Toilettenbereich an der Wand, erinnert noch an die lange Hochküchendominanz dieses Koches auf Mallorca. Inhaltlich, also auf dem Teller, soll der absolute Qualitätsanspruch des Chefs ungebrochen gelten, aber geradlinig ohne Sterne-Chichi zubereitet.
Die meisten Gäste scheinen das zu goutieren, das Lokal ist für frühe Vorsaison sehr gut besucht, teilweise aber auch von einigen distinguierten Naserümpfern, denen das von Schwaiger letztes Jahr treffend formulierte No-Go zuzutrauen wäre, dass sie weitaus lieber hier säßen, wenn die Kellner sich ordentlich mit weißem Hemd und Krawatte angezogen hätten. Aber das gehört ja genau so zu diesem Tierpark der Eitelkeiten wie der polierte Muskelprotz in 5.000-Euro Lederjacke, der tiefenentspannte Yachtbesitzer mit seiner chirurgengespannten Gesichtshaut und seiner exorbitant blonden Begleitung, die sich diese Qual ersparen kann, weil sie ohnehin drei Jahre, bevor die OP fällig würde, gegen ein jüngeres Modell ausgetauscht wird. Puerto Portals ist der einzige Zoo der Welt, wo zwischen Tieren und Besuchern nirgendwo ein Zaun gezogen ist.
Das färbt ab, nach beiden Seiten: Je länger wir hiersitzen, umso unklarer wird uns, zu welcher Kategorie wir gehören. Denn die hässlichen, kleinen Hunde, die von großen schönen Menschen aus ihren Louis Vuitton-Tasche gezogen werden, glotzen ebenso zu uns zurück wie die Trägerinnen der höchsten Absätze Mallorcas jenseits des Straßenstriches an der Plaza de las Maravillas oder die BMI-starken Provinztouris in ihren smartiesbunten Funktionsfasern. So fällt es uns ein bisschen schwer, an zwei „Hugos“ nuckelnd (die später ungefragt als „Hugo Champagne“ für 29 Euro auf der Rechnung stehen!) den Blick von diesem Wildwechsel loszureißen und auf die abgespeckte „Mar“-Karte zu richten.
Schwaigers berühmte Caldereta (Hummereintopf für 19,50 Euro) fehlt im Moment ebenso wie ihre französische Schwester Bouillabaisse (15,30 Euro), die feinen Ravioli mit Soller-Gambas-Füllung (18,50 Euro) oder der im Sommer immer zu empfehlende Kaisergranat vom Grill, der mit 14,75 Euro pro 100 Gramm berechnet wird. Statt dessen könnten wir heute als Vorspeise den sagenumwobenen Joselito-Schinken für 23,50 Euro bestellen, ein paar Krokettenvarianten oder den „J.J“-Pulpo für 14,30 Euro (der kommt „a la Gallega“, also einfach nur weich gekocht mit scharfem Paprika gewürzt). Die große Meeresfrüchteplatte für knapp 40 Euro pro Person ist uns zu teuer, die Paella wäre eine Alternative, denn die gibt es nur mittags ab zwei Personen, als Ciega „ohne Schalen und Gräten“ für 16,30 und mit Hummer für 21,50 Euro pro Person. Aber wir haben nur Fisch pur im Sinn, spätestens seit uns der sehr aufmerksame und hochprofessionelle Service die Platte mit dem „catch of the day“ an den Tisch gebracht hatte.
Die Auswahl ist heute mit Seeteufel, Wolfsbarsch, Dorade und Seehecht zwar überschaubar, unübersehbar dagegen die absolute Top-Frische der Meerestiere. Wir kauen also erst mal das tolle Sauerteigbrot mit schmackiger Papika-Auberginencreme und entscheiden uns angesichts des großen Fisches für kleinere Vorspeisen. Die Pimentos Padròn (9,50 Euro) erweisen sich als etwas labberig und viel zu fettig, und auch meine Coca Mallorquina mit Chipironnes (14,50) haut uns nicht wirklich aus den Latschen. Frittierte Mini-Tintenfische hatte ich gestern mittag überraschend lecker am Hotelpool gegessen, Schwaigers Mannen setzen da eher einen drunter: Die „Coca“ entpuppt sich als langweiliger aufgewärmter Mürbteigfladen mit kaum gewürzter Gemüseauflage, die Chipironnes sind hastig frittiert, kaum entfettet und verlieren beim Hinschauen schon ihre Panierung.
Das muss im Laufe der nächsten Wochen noch viel besser werden, um Anspruch und Preise zu rechtfertigen, der sich auch in der mehr als opulenten Weinkarte zeigt: die nämlich kommt als App auf einem im Sonnenlicht recht schwer ablesbaren iPad. 76 Seiten mit allem Schnickschnack, wo ein „Opus One“ für 599 Euro eher das preisliche Mittelfeld darstellt und ein Fläschchen Dessertwein 2005 Chateau D’Yquem 1.690 Euro noch nicht das obere Ende. Das gibt es bei den Spitzen-Burgunder mit „Preis auf Anfrage“. Wer wie wir mittags nur ein Glas trinken will, muss zu den offenen Weine bis zu Seite 68 herunterscrollen, wo uns sofort einer unserer Lieblingsmallorquiner ins Auge sticht – der Veran von Binigrau (Rosè 5,50, Weißer 6 Euro).
Unser Fisch wird später zwar mit dem Schockpreis von 60 Euro auf der Rechnung stehen, aber gerechterweise müssen wir sagen, dass uns das Tristan den verloren gegangenen Glauben an die Dorade wiedergegeben hat. Fast hätten wir angesichts der tranig-trockenen Zuchtfische, die überall nur noch angeboten werden, vergessen, wie erhebend eine so frisch und vor allem frei gefangene Dorade schmecken kann. Typisch spanisch zubereitet, also an der Gräte eingeschnitten und aufgeklappt auf der Plancha absolut perfekt und gleichmäßig gebraten, treiben diese unfassbar zarten, vollmundig-jodig schmeckenden und vor Saftigkeit spritzenden Fischfilets fast schon kleine Tränen in die Genießeraugen. Dazu werden ein paar leichte, hervorragend zubereitete Beilagen gereicht: hauchdünn gehobeltes Kartoffelgratin, schmackig gezwiebelter Babyspinat und ein nur mit etwas Buttermilch und Zitrone Marinierter, knackfrischer Romana-Salat, dessen ultraklein geschnittenen Schnittlauchröllchen die Sterne-Schule der Köche verrät. Die übersichtliche Dessertkarte erinnert uns daran, dass wir bis zu unserem letzten Test-Tag heute keine gebrannte Creme gegessen haben. Das wird aber Zeit. Die Tristan-Version nennt sich fein „Crème brûlée“, sieht mit ihrem Yin&Yang-Muster aus Nougat- und Vanillecreme so fein aus wie sie mundet mitsamt der dazu servierten Mandeleiskugel und Birnenkompott, aber am feinsten finden wir, dass sie auf der Rechnung vergessen wird. Das monieren wir mal nicht und sehen den gesparten Zehner als ausgleichende Gerechtigkeit für die „Hugo“-Frechheit zu Beginn dieses wunderbar unterhaltsamen Mittagessens. (aus: Mallorca geht aus)
Klassik am Timmendorfer Strand
Lutz Niemann liebt noch immer die Veränderung. Solange dabei alles beim Alten bleibt. Er kocht weiterhin in seiner zum innenarchitektonisch voll auf der Höhe der späten 1980er Jahre stehenden Gastraum vollverglasten Küche scheinbar absolut unbeeindruckt von der entweder formal an ihm vorbei gezogenen (Travemünde) oder munter-modern ideensprühender (Scharbeutz) Highend-Köchekonkurrenz. Scheinbar, denn nach einem selbst für die nicht immer oberkritischen Hotel-Stammgäste spürbaren leichten Konzentrationshänger im vorletzten Jahr ist der seit 1994 ohne Pause besternte Koch wieder ganz bei sich und voller Lust am stetigen Weiterentwickeln seiner Aroma-verliebten, klar mediterran ausgerichteten klassischen Hochküche.
All dies ist in den ersten 15 Minuten an einem der in schweren Leinen edel dekorierten Tische erst mal nicht zu spüren. Das beginnt schon mit der unterirdischen Brotauswahl. Man könnte meinen, das Zeug stamme aus der Hotel-eigenen Aufback-Massenproduktion: Vollkornstange und -Brötchen mit Haferflockenbesatz, dazu eine traurige Weißmehlsemmel, ebenso unangemessen wie das später zur Vorspeise gereichte kalte, außen leicht angebrannte, innen recht ausgetrocknete und streng nach Zwieback schmeckende Brioche. Der aufmerksame, sehr junge Service – Maître /Sommelier und Orangerie-Urgestein Ralf Brönner (ausgesucht spannende Weinkarte; perfekte Begleit-Empfehlungen) bildet hier fleißig aus – bringt dazu zwei handelsübliche Buttersorten, ein eher langweiliges Olivenöl, zum Glück aber auch eine frisches, sehr glatt püriertes Pesto. Verwöhnte Superfeinschmecker wären längst wortlos kopfschüttelnd aufgestanden und gegangen. Ein großer Fehler, wie schon der erste Küchengruß zeigen wird: Niemanns ein putziger Dreier vom Lämmchen mit südlich abgestimmtem Paprikaconfit, daneben etwas Feinhack in seltsam unkrosser Miniblätterteigpastete und eine kleine, ebenfalls deutlich nach Lamm schmeckende Fleischtranche erzeugt bereits ein schönes kleines Kitzeln am Gaumen. Voll verstärkt vom zweiten netten Wink aus der Küche. Die dreiteilige Variation vom Thunfisch zeigt den absoluten Willen zur Feinstarbeit: in zweifarbigem Sesam paniertes Sashimi mit Microbrunoise-Mango-Nocke, zu Rechten ein sehr feiner und dennoch bissfester Tatar mit zartem Aroma vom gerösteten Sesamöl in einer herzhaft gegrillten Auberginenschleife, und in der Mitte als Kleinkunstwerk aus der Fritteuse ein warmes Thunbulettchen auf Avocadowürfelchen mit einer haarsträubenden Struwelpeter-Frisur aus knusprigem Kataifiteig, der aber keine Spur „frittiert“ schmeckt. Extrem aufwändig und wohlschmeckend, und das ganz ohne modernistische Texturverschärfer (außer vielleicht hier und da eine Messerspitze geschmacksneutraler Xanthanbindung).
Kurz ringen wir mit uns, das vegetarische Viergangmenü (69 €) zu ordern, das Niemann erfreulicherweise anbietet und das bekanntlich mehr Hingabe in der Zubereitung erfordert als Hummer und Filet zusammen. Doch es siegt die Fleischeslust, gepaart mit den Krustentierversprechungen auf der Karte. Die beiden Vorspeisen „Mild geräucherter Rehrücken mit Kürbis, Pfifferlingen und schwarzen Nüssen“ sowie die Flusskrebsschwänze mit Spargel sind recht ähnlich dekoriert. Vertikal im rechteckigen Teller je eine mit dem groben Kamm gezogene Spur von grünem Kräuteröl, mittig aufgereihte Haupt- und ringsherum verstreute Neben-Komponenten. Das sieht zeitgemäß aus und schmeckt hervorragend: Butterzartes Reh aus dem milden Hausräuchertopf, dazwischen mit etwas Ingwer parfümierte (von der Textur her offenbar Sous Vide gegarte) Muskatkürbiswürfel, umgeben von süßlich kandierten Schwarznussraspeln und grandios ergänzt durch kleine Mousseline-Tupfen von hellgelbem Mais und superfruchtig-dunkelgrünem Apfel – im Gesamtakkord eine perfekte kulinarische Lösung der alten Aufgabe, Wild mit leicht süßlichen Aromen zu verbinden. Nicht minder tadellos die Flusskrebse, serviert als perfekt a point gegarte, wunderbar nussig schmeckende Schwänzchen und zusätzlich als mit frischen Dillblüten angenehm nordisch gepoltem Krebshack, was durch die grüne Frische der Spargelzubereitungen (als Tatar und, ebenso wie der Topinambur, süßsauer marinierte Scheibchen) weiter unterstrichen wird.
Unsere beiden Zwischengänge kommen ebenfalls aus dem Meer: Die beachtlich dicke, im Kern perfekt glasig gebratene Filetschnitte vom Müritz-Zander thront auf gut balanciert süßsauer ausgerichteten Gurkenwürfelchen, die mit einer Weltklasse-Fischvelouté umgossen und seitlich von zwei kleinen Bällchen salzig-süß eingekochten Fliederbeermus überraschend genial begleitet wird. Weniger spannend fanden wir die häufige Verwendung profaner Schnittlauchhalme in den Garnituren allgemein und im Speziellen auch die Wahl der Kaviarsorte für die Nocke auf dem Zander: bissloser, breiig-schmieriger Zucht-Ossietra – garantiert teuer im Einkauf, aber geschmacklich wie texturell wäre in diesem Kontext sogar ein ordinärer aber knackiger Saiblingskaviar noch die bessere Wahl gewesen. Egal, denn auch „Gegrillte Langoustinen mit feinen Nudeln, Fenchel und Tomate im Bouillabaisesud“ sind eine in sich zu hundert Prozent stimmige Kreation mit fein kombinierten südeuropäischen Noten und den fast schon feist portionierten, nennenswert schmackhaften Kaisergranaten auf den bissfesten Minispaghetti, die eine willkommene texturelle Ergänzung und zugleich eine heimelige Stillung mediterraner Nudelsehnsüchte liefern.
Interessant ist an dieser Stelle im Menü ja immer die Frage, ob die Küche wie so oft nun ihr Pulver verschossen hat und der Spannungspegel bei den Hauptgerichten wieder sinkt. Niemann hält diesen Bogen weiter unter Vollast: Für den „Atlantik Steinbutt und Lachstatar auf Schwarzwurzeln mit karamellisiertem Chicorée“ ruft er a la carte 52 Euro als Einzelpreis auf, was innerhalb des vergleichsweise preiswerten Menüs keine Rolle spielt, aber angesichts des durch die im Herbst schon recht kalte See vor der Bretagneküste bereits etwas kompakter gewordenen Buttfleisches, das trotz perfekter Glasig-Garung ziemlich kompakt zwischen den Zähnen liegt, recht happig anmutet. Die an diesem Fisch sonst so geliebte zartschmelzende Jodigkeit jedenfalls trägt er so gut wie nicht (mehr) in sich. Die Einbettung in bissfest karamellisierten, mit schmalen Speckbändern bardierten Chicoree und das nicht minder perfekte Schwarzwurzelbett unter dem Fisch sorgt aber gerade im Zusammenspiel der á part gereichten Krustentierjus und dem frischen Aufbau auf dem Butt (Lachstatar mit eiskalter Creme Fraiche) für ein harmonisches Gesamtbild.
Das lässt sich auch vom „Rehrücken a la "Royal" mit karamellisiertem Apfel, Waldpilzen und Spitzkohl“ sagen. Auf der Tageskarte mit 46 Euro fast ein Schnäppchen – als Fleischgang im Vierermenü für 79 Euro umso mehr, zumal Niemann den Austausch gegen das eigentlich im Menü vorgesehene preiswertere Gericht ohne Aufpreis durchwinkt. Niemann unterscheidet sich bei dem Gargrad der Rückenfilets positiv von vielen seiner ambitionierten Kollegen, die das Fleisch allenfalls 40 Sekunden durch die Pfanne rollen und dem Gast innen fast kalte, rohe Rehfasern zumuten. Doch hier ist alles schön rosa, herrlich zart, und kundig begleitet von kleinen Mengen knackigem Kohl, geschmacksstarken Steinpilzwürfelchen, Mini-Serviettenklößchen und einer Nocke kleinstgehackter Karamelläpfel. Das „Royal“ kommt als mit etwas Zimt passend winterlich eingeschmortem, fast schon schokoladigem, in Zylinderform gepresstem Rehgekröse, am Gaumen ohne die sonst störende Innerei-Penetranz, mit einer kleinen Scheibe gebratener Gänseleber und etwas gehobelter foie gras oben drauf. Das ist alte Wildschule in Höchstform, zu der freundlicherweise ein Kännchen nicht minder klassischer Pilzcremesauce gereicht wird – wir würden viel dafür geben, so einen Gang irgendwann einmal als All-You-Can-Reh-Alleingericht angeboten zu bekommen.
Die Speisen nach dem kleinen erfrischenden Piña-Colada-Vordessert führen die bis zuletzt nach oben zeigende Kurve leider nicht fort, in beiden Fällen waren zum Beispiel die Eisnocken beim Servieren bereits nicht unerheblich auf die Teller geschmolzen. Beim „Delice von „Birne Helene“ mit Joghurt-Himbeergranulat und weißem Schokoladen-Ingwereis“ hatte der Patissier deutlich zu viele Gewürznelken in den Sous Vide-Beutel der Birnenfrüchte gepackt, das dehydrierte Beerengranulat hatte etwas Luftfeuchte gezogen und klebt nun am Obergaumen, statt sich puffend auf der Zunge aufzulösen. Dazu ein bleischwerer Dunkelschokoladenfondant und ein Eis, dass sein Ingwerversprechen nicht einlöst – nein, da haben wir schon ein gutes Dutzend weitaus besserer „Helene“-Deklinationen gegessen. Auch die „Gebrannte Grießschnitte mit Pflaumen und Mandelmilcheis“ geht allenfalls als „solide“ durch. Die geschmacklich halbwegs gelungene Improvisation auf das Mandelthema mit Marzipanespuma und Eis samt kleinen roten Apfelwürfeln wird von der pappig wie ein Baba getränkten und ansonsten eher nichtssagenden Grießschnitte banalisiert.
Daran ändern auch die netterweise selbst ohne jegliche Kaffeebestellung servierten Petit Fours so wenig wie das dann noch folgende Auswahl-Tablett mit weiteren Süßspezereien. Beim nächsten Mal nehmen wir statt des Desserts lieber von der phänomenalen, drei Tableaus großen Rohmilchkäseauswahl eines der größten Affineure der Welt, dem „Käseflüsterer“ Bernard Antony aus dem kleinen französischen Dorf im Sundgau, unweit der Schweizer Grenze bei Vieux Ferrette. Bei dem kauft auch Harald Wohlfahrt ein. Ein alter, enger Freund von Niemann. Und noch so ein Klassiker. (aus: Gusto)
Hausers Hans-Dampf-Revue
Alles fließt. Der Verkehr auf der Elbchaussee hinauf zum fernen Süllberg, zäh wie die Elbe in die namensgebenden Sieben Meere oder die anmutige Choreographie des jungen, freundlich-professionellen Service, der auch nichts dafür kann, dass Karlheinz Hauser sein rundes Gourmet-Turmzimmer mit viel mehr Tischen zugestellt hat, als es dem diskretionsverliebten Sternegast lieb sein kann. Dass Hamburgs Hans Dampf in allen Gourmet-Gassen seinen jungen zweiten Stern halten muss, ist weder dem angekratzten Christofle-Sterling-Tischsilber noch den ersten drei Küchengrüßen anzumerken, die zusammen mit diversen Free-Desserts das Viergangmenü für 98 Euro (Menüs 79-168 Euro; brutale Weinpreise) auf acht bis zehn Teller hochjazzen. Hauser beginnt verhalten mit Matjesröllchen und Auster aus der Fritte, einem „Strandspaziergang“ mit Lachs, Wasabi und einer unter dem Bunsenbrenner böse verkohlten Gurkenscheibe, danach etwas halbrohes Rehfilet mit den allseits geliebten, albernen Mini-Macarons, versalzener Weißer und Keller-muffiger roter Bete. Schwaches Intro, aber dann: zur großartigen Brotauswahl erst ein himmlischer Foie-Gras-Dreier samt schwarzer Walnuss, Joghurtgelee und Maracuja, sowie ein beherzt gewürzter Taschenkrebstatar – beides so hochklassig wie das „Lauwarme Carpaccio vom Kaisergranat“ oder die Jakobsmuscheln in genialer Begleitung von Blumenkohl und Bergamotte-Hollandaise. Den Fischgang, St. Pière unter der Pinienkruste musste die Küche nochmal und weniger übergart schicken, während mein „Quartett vom Bellota Schwein“ (Filet, Schmorstück, leider laffer Knusperbauch und Sülze) die Michelin-Zweisterne-Definition „verdient einen Umweg“ ebenso einlöste wie die Rohmilch-Orgie vom Elsässer Käsepapst Maître Bernard Antony, die Dörrobst-Whiskey-Spielerei unter Zuckerwatte und der final tödliche dreistöckige Post-Dessert-Wagen, nach dem wir gaumenglücklich von Hausers handwerklich fehlerfreier, vergleichsweise aber doch wenig visionärer Sternerevue vorbei an den fahl flackernden Millionärsvillen zurück in die Stadt fließen. (aus: Szene Hamburgn Essen & Trinken)